Überarbeiteter Vortrag zur Ausstellungseröffnung 88 Rätsel zur Unendlichkeit Volker funné Funke in der Stadtbücherei Heilbronn, 21.01.2005
Von Dr. Bernhard Stumpfhaus
Im Zentrum der in der Stadtbücherei (Heilbronn) zu sehenden Auswahl der neueren Werke des Künstlers Volker Funke, gen. funné, steht seine jüngste Buchpublikation zusammen mit dem Dichter Sternmut, die der Präsentation auch ihren Namen gegeben hat. Über die Buchgrafiken will ich hier hauptsächlich handeln, in der Hoffnung, dass der Leser das nun Folgende auch auf die Bilder übertragen möge.
Es ist heute schon ein ziemliches Unterfangen, auf eigene Kosten und auf eigenes Risiko ein Bild- und Gedichtband herauszubringen. Abgesehen von der editorischen Sorgfalt, die sich in allerlei Kleinlichkeiten, sei es der Rechtschreibung, sei es der Interpunktion, sei es der Einheitlichkeit des Satzes und des Druckbildes auch im Detail, mühsam abzuarbeiten hat, bleibt noch die Unsicherheit, ob sich das Buch auch verkauft, ob es das Leserinteresse zu wecken in der Lage ist und ob es den Lohn einbringt, den man sich auf Grund des hohen Einsatzes bei seiner Herstellung erhoffen darf. Das alles ist keine Selbstverständlichkeit, denn die Konkurrenz ist groß; die Verleger grasen noch die entlegensten Talente ab, um dem unersättlichen Hunger des Publikums nach neuer, exotischer, unverbrauchter Unterhaltung zu stillen. Zudem machen die Verlage ihr Geld weniger mit Gedichten und Grafiken, sondern vor allem mit informativen Büchern, die dem Leser Aufklärung bieten, Sachwissen, Information. Diese Bücher haben eine kurze Halbwertszeit, weil sich das Wissen heute mit jedem neuen Betriebssystem, mit jedem Softwareupgrade, mit jedem Reiseangebot flugs zu ändern scheint, wie ein Chamäleon immer wieder sein Aussehen wandelt, so dass man ihm eher mit der Schnelligkeit eines Mausklicks beizukommen meint als mit dem Umstand, sich mühselig durch langsame Schriftzeilen quälen zu müssen. Das Buch ist langsam, der Computer schnell. Fortbildung findet – so will es die Prognose der Wirtschaft – am Bildschirm statt, nicht im Buch: E-Book statt Papier, digital statt analog.
Rätsel No. 00 ZEPP!
Überhaupt ist das Verhältnis von Computer und Buch ein kompliziertes, nicht gerade harmonisches – obwohl doch die Rechenmaschine heute für das Buch die Matrize setzt. Der Computer, so wird allenthalben geseufzt, gejubelt, läuft dem Buch den Rang ab. Es gibt viele futuristische Fantasien, welche die Bibliotheken der Zukunft als Datenträgercasinos vorstellen. Die Bücherei, wie wir sie hier sehen, wäre gemäß dieser Visionen aussterbender Dinosaurier.
Auch die Texte verändern sich. Er wird weniger der fortlaufende Text sein, die Darstellung einer sich in der Zeit entfaltenden Geschichte oder eines sich im Lesen entfaltenden Gedankengangs; so, wie wir es im Moment noch gewohnt sind. Der Text der Zukunft ist der Hypertext, der durch assoziatives Springen von Link zu Link eher durch aphoristische Kürze, bestimmt durch die Größe des Bildschirms, definiert ist, nicht aber oder kaum noch durch die gegebene Zeitqualität in Abhängigkeit des zu entwickelnden Gegenstandes. Es gilt, dass die Assoziation schneller, informativer zu sein scheint als die Diskursivität, Verworrenheit anregender als der klare Gedankengang.
Gerahmt wird der Computertext, anders als derjenige einer Buchseite, durch kleine Bildchen, sog. Icons, hinter denen komplizierte Befehlsstrukturen stehen, die selbst einen kleinen Text ersetzten. Bald werden diese Marginalien in den Text einbrechen, so dass eine Komposition aus Schrift- und Bildzeichen zu erwarten ist.
In diesem Spannungsfeld zwischen analogem und digitalem Text- und Bildträger, aus Buchstabe und iconischem Bedeutungszeichen ist das Buch von Sternmut / funné, sind vor allem die Rätselbilder Funkes anzusiedeln. Der bildende Künstler macht darauf aufmerksam, dass all seine Grafiken am Computer entstanden sind, wobei ein großer Teil der Zeichen und Bildchen, sog. Cliparts, Bildarchiven von CD-Roms und dem Internet entnommen sind. Viele von ihnen wurden mit der Maus direkt am Bildschirm kreiert. Blättert man funnés Bilder durch, so fällt auf, dass Cliparts und andere Bildquellen nicht voneinander zu unterscheiden sind. Insgesamt findet man beinahe alle möglichen Arten an Grafik, von der Zeichnung Dürers, über Buchillustrationen der humanistischen Epoche (derjenigen des jungen Buchdrucks), über Stahlstiche und andere illustrierende Druckgrafiken bis hin zur Fotografie, zur wissenschaftlichen Schematik und mathematischen Grafik. Es fehlen eigentlich nur heutige Verkehrszeichen und die großen, Gemälde darstellenden, Stiche des Barock. Sogar eigene Kreationen hat der Künstler dem Fundus seiner kleinen Bildchen eingefügt. All das ist in funnés Computer-Montagen gleichwertig nebeneinander gesetzt. Dürer wird nicht hervorgehoben über einen beliebigen Radfahrer aus irgendeinem Heft der 1920er Jahre. Der Künstler hat, ganz dem heutigen Umgang mit dem Computer entsprechend, alle seine Bildschnipsel zu einem Pool von bildhaften Versatzstücken amalgamiert und damit ihre Einzelbedeutung außer Kraft gesetzt, sie mit neuen Sinnassoziationen überblendet.
Rätsel No. 20 Der Radfahrer
funné setzt mit diesem Verfahren fort, was er in seinen früheren Künstlerbüchern bereits praktiziert hat. Das sind Unikatbücher, in denen er die dortigen Bilder übermalte, durchstrich, dadurch ihren Sinn änderte, wenn nicht sogar ganz vernichtete. Eben das Gleiche hat er in seinem neusten Buch getan. Er sammelte und setzte die Scans, Icons, Cliparts so zusammen, dass ihre eigentliche Bedeutung gar nicht mehr zu erkennen ist. Deutlich wird das an der Rätselgrafik 24, Die Kräuterfrau.
Rätsel No. 24 Die Kräuterfrau (HvB)
An sich personifiziert sie, mit Spiegel und Flamme ausgestattet, die Wahrheit und entstammt wohl einer Illustration zu Sebastian Brants Narren Schyff (1494); einem Buch, das den Künstler seit langem bewegt. Doch die Personifikation der Wahrheit bei Brant tritt bei funné als ein unbestimmtes Weiblein auf, die vor einem elektronisch generierten Gewächs steht, wobei der Spiegel in ihrer Rechten mehr nach einer Spindel aussieht und die Fackel in der Linken einem überschwappenden Gefäß gleicht. funné widmete sie um, spielt mit ihr so, als ob ihre Bedeutung und ihr Herkommen beliebig, ihre Attribute gar nicht vorhanden seien.
Wer weiß schon, woher die Frau stammt, was sie bedeutet, was sie in der Hand hält? Wer will das wissen? Wer braucht ein solches Wissen, wozu? Uns heutigen, die bei dem Wortklang Brant höchstens an unseren verstorbenen Altbundeskanzler denken, ist diese Person nichts anderes als eine gleichgültige Frau aus irgendeinem Bildarchiv, eben ein Clipart, gerade gut genug, einen Dateiordner zu bezeichnen oder eine Homepage zu hinterlegen. Kurz, funné macht mit seiner Überblendungsstrategie, mit der Kontextverschiebung die Willkür deutlich, mit der wir Bilder und ihre Bestandteile behandeln.
Ich finde es interessant, den Schritt von funnés Buchunikaten zu diesem, im Zentrum der Ausstellung stehenden, Buch nachzuvollziehen. In seinen vorherigen Bucharbeiten herrscht noch die Handarbeit vor, das Festhalten am Authentischen. Man kann die handschriftlichen Überarbeitungen durchaus als einen Protest gegen unsere Massenproduktionen von Bildern ansehen, als ein trotziges Beharren auf dem Ursprünglichen, Echten. Nicht fremde, unendlich reproduzierte Bedeutungskonserven zählen, sondern die eigene Phantasie, die eigene, einmalige Kreativität. Die hat Fleisch und Blut. Gegen den anonymen Druck, gegen Reproduktion und folgenden Auraverlust des Einzelwerks setzte der Künstler den authentischen Ausdruck der gezeichneten Linie, die Einmaligkeit der Handschrift, und stellte gegen die verbindliche Bedeutung der abgedruckten Bilder seine eigenen Geschichten, Tagtraumvorstellungen und Gedächtnisbilder.
In gewissem Sinne ähnlich verfährt Funke auch in den 88 Rätseln. Er beraubt die überlieferten Bilder ihrer Bedeutung, ebnet sie ein, übermalt sie gleichsam, indem er sie nimmt und per elektronischer Bildverarbeitung verfremdet, verpixelt, vergrößert, verkleinert, aus dem Kontext schneidet, woanders hinmontiert. Damit streicht er die Bilder genauso durch, raubt ihnen genauso ihren Sinn, wie er es auch in seinen Unikatbüchern getan hat.
Allerdings ist es ein großer Unterschied, ob das am Computer geschieht, ohne eine eigene, authentische Handschrift, oder ob in einem Buch herumgekritzelt wird. Ich finde die synthetische Arbeit am Computer radikaler. Sie ist dies insofern, als sie auf eine individuelle Authentizität, auf persönlichen Ausdruck verzichtet. Immerhin verliert sich diese spätestens in der Reproduktion der eigenen Bilder im Katalog, in der Fotografie, auch beim Scannen – für die Homepage etwa. Das eigene, das einmalige, ursprüngliche Bild geht sowieso den Weg aller Bilder, wird dem großen, unendlich großen Bilderpool einverleibt und dort wie in einer Schrottpresse zu Clipart, kleinen Icons zerdrückt. Das scheint heute der Weg aller Bilder zu sein, ihrem Wesen einverleibt. Wenn wir ein Kunstwerk auf der Kunstmesse in Basel sehen, dann ist seine Verwertung in den Printmedien und in der virtuellen Welt mitzudenken. Ja, viele Werke werden mit dem Ziel gefertigt, fotografiert oder digital weiterverarbeitet zu werden. Ein Bild wird gemacht, um sich dann überall auf der ganzen Welt in tausendfacher Wiederholung reproduziert zu sehen. Nicht der individuelle Pinselstrich oder die gezeichnete Linie zählen. Man begreift ein Bild nur, wenn man seine Reproduktion, sein Verschwimmen in der Bilderflut und das Verschleifen seiner Ausdruckskraft dort mitdenkt.
funné bedient sich für seine Grafiken des Computers und lässt damit eben dieses Schicksal der Bilder im großen Computerpool ansichtig werden. Die Authentizität der Bilder scheint heute weniger darin zu bestehen, dass sie eine bestimmte Bedeutung transportieren, dass sie ein bestimmtes Herkommen, ein bestimmtes Emotionspotential ausdrücken, sondern vielmehr darin, dass sie als visuelle Hülsen ohne Herkommen und Bedeutung, zerschnitten irgendwo in einer Datenbank liegen, wo sie jedermann zu eigenem Gebrauch zur Verfügung stehen. Die Bilder sind beliebige Werkzeuge, mit denen man seine Homepage stylen, seinem eigenen Text kleine Befehls- oder Erinnerungsicons einfügen, seinen Brief mit eigenwilligem Schmuck versehen kann. Ihre eigentliche Funktion besteht darin, für jeden nach eigenem Geschmack, nach eigenen Vorgaben nutzbar zu sein.
Diesen Usancen folgt funné, wenn er Bildsplitter sammelt, die uns als wertlos gewordenes Treibgut täglich durch die Sinne schwappen, und sie zu neuen, eigenen Sinnverbänden, zu selbst ausgedachten Geschichten montiert. funné verzichtet auf den künstlerischen Handstrich, weil das Authentische der Bilder in ihrem Status der Reproduziert-Seins zu finden ist, in ihrer zerschnippelten Beliebigkeit, ihrer Verwertbarkeit als Clipart. Das muss man für Funkes Computergrafiken mitsehen. Die Bildchiffre als bedeutungshaltiger Erinnerungsträger – die Allegorie der Wahrheit etwa aus Brants Narren Schyff – hat ihren Sinn und Kontext für uns verloren. Zum anderen ist sie authentisch nur in dem spezifischen Zusammenhang, den der einzelne ihm verleiht. Also: Beliebigkeit auf der einen Seite, individualisierter Sinn und Nutzen auf der anderen. Die Figur des Kräuterweibleins hat ihre Echtheit sowohl in der Bedeutung als Personifikation der Wahrheit im Kontext von Brants Narren Schyff, als auch als Kräuterweiblein in funnés Grafik, oder auch als Desktopicon bei Ihnen im Computer. Das Weiblein an sich, die Figur die sie darstellt, ist nur Hülse, leeres Gefäß, das nur darauf wartet, vom User, vom jeweiligen Individuum nach eigenem Gutdünken mit Sinn und Funktion besetzt zu werden.
Doch nicht nur die Bildchen selbst werden von funné als nutzlos und damit beliebig nutzbar als Recyclingware unserer Phantasie gezeigt. Ähnlich wie mit den Bildfragmenten verfährt er auch mit den verschiedenen Interpretationshorizonten. Wenn wir ein künstlerisches Bild sehen, so gehen wir mit bestimmten Deutungsinstrumenten ans Werk, um seinen spezifischen Gehalt herauszulesen. Manche erwarten vom Bild Aussagen über das Befinden des Künstlers und suchen in seinen handschriftlichen Zeichen nach Hinweisen. Doch dieses Vorgehen verweigert der Künstler, da es keine direkten Zeichnungen gibt. Er verweigert für seine Bildfiguren Mimik und Gestik als typische Ausdrucksträger seelischer Befindlichkeiten. Vielleicht nutzen ja Symboldeutungen nach dem Schema der Psychoanalyse Freuds oder demjenigen der Archetypen Jungs?
Doch schaut man sich die Bilder genauer an, so prallen solche Deutungen auch ab. Z.B. das Rätsel No. 58, Der Schwimmer.
Rätsel No. 58 Der Schwimmer
Wir sehen hier einen Schwimmer mit altmodischem Badeanzug vor einer Kloschüssel, beides in den zwei Ovalen des Unendlichkeitszeichen stehend, dazwischen das Wort aqua, am Rand rechts ein lang gezogenes IIIIIIIIIII. Im Hintergrund Fische. Irgendwie passt ja alles zusammen. Doch was soll der Schwimmer mit dem Klo, dem er so bewundernd, die Hände ringend, gegenübersteht? Will er hineinspringen und schwimmen, bewundert er anbetend sein Geschäft im Klo? Ist es eine Allusion auf Duchamps Urinoire – ein berühmtes Ready-Made? Was will uns der Künstler sagen. Geht es um Narzissmus und den Stolz auf das eigene Werk? Das Werk des Schwimmers ist aber doch das Schwimmen! Das kann er aber offensichtlich in der Schüssel nicht. Weder Psychologie noch kunsthistorische Schlauheit helfen uns zur Deutung weiter. Der Künstler gestaltet seine Werke, so wörtlich, nicht um sich auszudrücken, sondern um produktiv seine Zeit zu nutzen – und hat damit Teil – ebenfalls O-Ton Funke – an der überbordenden Bildproduktion.
An dieser witzigen Absurdität der Zusammenstellung der Bildelemente prallt jede Psychologisierung ab, jeder konsistente Deutungshorizont bricht auf. Das ist paradox, sehen die Grafiken doch aus wie Bildrätsel, Rebusse. Rätsel sind bekanntlich dazu da, eindeutig gelöst zu werden. Denn die Lösung des Rätsels besteht ja noch bevor es das Rätsel gibt. Erst ist das zu lösende Wort, dann das Rätsel – das gilt seit den Tagen der Genesis, das gilt heute für die Rätselshows im Fernsehen. Deshalb können wir uns ja beim Anblick eines Rätsels über seine prinzipielle Lösbarkeit trösten und frisch ans Werk gehen. Doch funné konfrontiert uns mit der Irritation, dass es offensichtlich keine Lösung gibt; der Künstler hat sich vor der Gestaltung seiner Denkbilder keine begrifflichen Vorstellungen von dem gemacht, was sie auszudrücken haben. Um uns vor diesen Bildern zu beruhigen, bliebe uns also nur, die zu sehenden Dinge zu benennen und aufzuzählen: Das ist ein Schwimmer, das ist ein Wagen, das ein Fleischwolf etc. Eine solche Identifikation ist aber höchst unbefriedigend, trivial; niemand hat etwas davon; denn das Bildrätsel ist damit offensichtlich nicht gelöst.
Rätsel No. 45 Der Wagen
Über diese Schwierigkeit der Deutung zwischen der Banalität einer bloßen Benennung des Bildgegenstandes einerseits und seiner opaken Rätselhaftigkeit anderseits gibt uns Norbert Sternmut in seinem Gedicht zu Rätsel No. 45 Der Wagen Auskunft: Die 1. Strophe lautet: „(Der Wagen ist ein Wagen Ist ein Wagen…)“ Die letzte: „Der Wagen (Der Wagen) Will Wagen sein.“ Zwischendrin ist zu lesen: „Der Wagen steht als Wagen Im Titel: des Gedichts: der Wagen (Der Wagen).“ In diesem Gedicht bekommen wir die unbefriedigende Tristesse der bloßen Benennung des Bild- bzw. Gedichtsgegenstandes als des Rätsels Lösung vorgeführt: der Wagen ist ein Wagen, der Schwimmer ein Schwimmer. Das Einzige, was sich positiv über den Wagen sagen lässt, ist, dass er im Titel des Gedichts vorkommt. Ansonsten zählt das Gedicht nur Negativbestimmungen auf, das was der Wagen nicht ist. In dieser uns auf- und eindringlich vor Augen geführten Bedeutungsarmut, dass der Wagen eben nur Wagen ist, passiert aber dann doch etwas Eigenartiges. Es ist so, wie wenn man lange und konzentriert auf einen Gegenstand schaut, eine Lampe etwa oder einen Baum, ein Glas, eine Kloschüssel.
Der Gegenstand löst sich auf, verwischt vor unseren Augen und wird zu etwas ganz anderem. So fängt das Nomen Wagen an zu schillern und öffnet sich gegen andere Bedeutungen wie etwa das ‚Wagen’ – Mut haben – oder es assoziiert sich das Wägen, das ähnlich klingende Wort: Waage. Und allmählich entfernen wir uns vom Wagen, dem Karren, und beginnen, andere Dinge mit Wagen zu assoziieren, andere Bedeutungen aufzutun.
Angeregt von dem Gedicht oder von der Grafik fangen wir an, mit Bedeutungen, Sinngehalten zu spielen, assoziieren uns weg von der einfachen Benennung, machen den Wagen – um beim Beispiel zu bleiben – zum Helden einer wagemutigen Geschichte oder zum Sternbild. Es ist also keineswegs nur eine Tragödie, dass unsere Sinnbilder zerfallen, zerstückelt als Clipart enden. Vielmehr scheinen wir auch eine Freude daran zu haben, mit der Sprache, den Bildern und Definitionen zu spielen – ja haben es sogar nötig.
Was wollen uns also die beiden Künstler mit ihren seltsamen Absurditäten sagen, die keinen weiteren Sinn zu transportieren scheinen, als den Sinn der gezeigten Bildschnipsel zu negieren. Was sollen uns Bilder, die es uns verweigern, wie eine Illustrierte das Intimleben des Künstlers darzulegen? Was sollen uns Bilder, die nicht Erfahrungen, Seelenregungen, kluge Statements vermitteln? Gehen wir da nicht lieber ins Kino, ins Theater oder in die Kirche? Überall dort werden uns Zeichen und Symbole geboten, die uns mit bestimmtem Sinn ausstatten. Das weiße Männchen auf Grün als Notausgang, der rote Kreis mit der durchgestrichenen Kippe als Rauchverbot, das Kreuz für die Erlösungstat des Herrn, der dramatisch erhobene Zeigefinger als Mahnung aufzuhorchen.
Funke konfrontiert den Betrachter mit der Frage: Sind wir es denn nicht satt, uns so gängeln zu lassen?? In allem eine feste Bedeutung sehen zu müssen. Kann der Fleischwolf nicht auch mal als eine Seifenblasenmaschine angesehen werden, der Schwimmer als selbstverliebter Narr, das Kleiderschnittmuster als Karte eines Parks? Was ist mit all den anderen Zeichen, die befehlend und bestimmend uns gegenüberstehen? Tu dies, geh hierhin oder dorthin, sei still, rauche nicht, sei andächtig, sei weise etc. Sinnzeichen sind vor allem Befehle an uns, sind bestimmte Handlungsaufforderung und Nötigungen, die Welt auf eine bestimmte, definierte – und damit belanglose, weil unveränderbare – Weise zu sehen. Das naturwissenschaftliche Schema tritt mit dem Pathos auf, uns die Welt einfach und letztgültig erklären zu wollen. Das Foto in der Bildzeitung zeigt uns ein für alle Mal: „So sieht eine Mutter aus, die ihre sieben Kinder umgebracht hat“. Der Kunstgeschichtler klopft dem Betrachter die historische Bedeutung des Bildes fest: Das dachte damals Dürer. Es liegt in der eingangs geschilderten Bildervernichtung durchaus auch etwas Befreiendes, denn wir haben ja unsere Not mit den Bildern, die jeweils auch Vorbilder, Befehle und Verbote zu sein den Anspruch erheben.
Funke und Sternmut bieten im Buch 88 Rätsel zu Unendlichkeit keine Rätsel, die die Antwort in sich tragen, die dem Betrachter als Auflösung eine Botschaft präsentieren, welche benennbar und damit festzuhalten ist. Bild und Gedicht sind zu verstehen als befreiende Narrenrede, die die Alltagsweisheit auf den Kopf stellt, die in Rätseln spricht, die der Verstand nicht nur nicht lösen kann, sondern auch nicht soll. Ziel von Grafik und Gedichten ist es, die Phantasie vom Bedeutungsdiktat unser alltäglichen Bild- und Zeichensprache mit Vorbild- und Befehlsfunktion zu befreien.
Rätsel No. 65 Melancholia (Agnes Dürer)
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Bernhard Stumpfhaus, Heilbronn, den 21.01.2005
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